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Test

Kann urbanes Kuratieren dazu beitragen die unsichtbaren Geschichten von Kolonialismus und Rassismus sicht- und gesellschaftlich verhandelbar zu machen?

Suy Lan Hopmann

Suy Lan Hopmann war als Kuratorin im Museum am Rothenbaum - Kulturen und Künste der Welt (MARKK) und als Projektreferentin für die Dekolonisierung Hamburgs für die Kulturbehörde der Stadt Hamburg tätig. Für ALLES IST SCHON DA stellt sie – anhand des Beispiels der Bernhard-Nocht-Straße auf St. Pauli – Fragen nach den Möglichkeiten urbanen Kuratierens: Können darüber die Geschichte des deutschen Kolonialismus und die rassistischen Strukturen der Gegenwart sicht- und sprechbar werden?

Die Bernhard-Nocht-Straße auf St. Pauli
Wie keine andere Straße in der Hafenstadt Hamburg verbindet die Bernhard-Nocht-Straße auf St. Pauli die Geschichte des deutschen Kolonialismus mit den rassistischen Strukturen der Gegenwart. In einer langen Blickachse markiert sie zum Westen hin mit dem größten Bismarck-Denkmal Europas den Beginn der deutschen Kolonialzeit, zum Osten mit der St. Pauli Kirche als monatelangem Zufluchtsort der Lampedusa-Geflüchteten in 2013/2014 die bis heute mächtigen und rassistischen Grenzpolitiken Europas. Dazwischen liegen das Bernhard-Nocht-Institut, das unter anderem eine unrühmliche Rolle im Vordenken rassistischer Stadtplanungen nach Hygienevorgaben in Kamerun spielte; der sich eröffnende Blick auf den Hamburger Hafen, von dem aus in die deutschen Kolonien gestartet wurde und wo die Waren aus diesen Kolonien ankamen; die Balduintreppe an der tagtäglich verhandelt wird, wer zur Stadtgesellschaft dazu gehört und wer von außen zugucken muss sowie der Yaya Jabbi Circle, nach einer Person benannt, dessen Leben 2016 an den rassistischen Strukturen zerbrach.

Doch die meisten Anwohner:innen, die Schüler:innen der St. Pauli Grund- und Stadtteilschule und die unzähligen Tourist:innen, die in die Stadt und auf die Reeperbahn strömen, kennen diese Geschichten nicht. Für sie sind diese Geschichten unsichtbar.

Welche Rolle könnte eine Stadtkuratorin dabei spielen, das zu ändern und die vergessenen Geschichten rund um den deutschen Kolonialismus und die Bedeutung, die die Hamburger Handelshäuser und der Hafen darin spielten, sichtbar zu machen? Wie könnte ein Kuratieren des öffentlichen Raums rund um die Bernhard-Nocht-Straße aussehen, dass die Kontinuitäten und Brüche der städtischen kolonialen Vergangenheit bis heute aufdeckt und öffentliche Diskussionen darüber anstößt, wie sich damals etablierte Machtverhältnisse fortsetzten und sich rassistische Strukturen, Gesetzgebungen und Vorstellungen in der deutschen Gesellschaft verfestigten? Wie können Künstler:innen mittels konkreter Orte, noch heute existierender Gebäude und realen Biografien und Geschichten Fragen dazu aufwerfen, wie Kolonialismus, Visa- und Aufenthaltsbestimmungen und rassistische Polizeikontrollen miteinander zusammenhängen und warum wir uns als demokratische Gesellschaft damit beschäftigen müssen?

Erinnern im öffentlichen Raum
In den meisten Fällen fokussiert sich das Erinnern im öffentlichen Raum auf einen einzelnen physischen Ort und dient dem Gedenken an bestimmte Personen und Ereignisse oder der Ehrung herausragender Leistungen und Persönlichkeiten. Die Kriterien dafür, an wen oder was erinnert werden muss oder wem oder was Ruhm und Ehre gebührt, sind alles andere als statisch und werden in unregelmäßigen zeitlichen Wellen immer wieder neu verhandelt. Die Kriterien – und vor allem die Frage danach, wer (!) sie bestimmen darf – sind ein großes Politikum.

In Westeuropa haben sich für Ehrung und Gedenken im öffentlichen Raum im Wesentlichen zwei Formen herausgebildet: eine schriftbasierte in Form von Straßennamen, Schrifttafeln und Plaketten in unterschiedlichen Materialitäten und eine bildnerisch-künstlerische in Form von Denkmälern, Mahnmalen oder Bauschmuck. Ein rezenteres Beispiel ist das Stolpersteinprojekt, das der Künstler Gunter Demnig 1992 startete. Allen gemein ist, das sie auf Dauer angelegt sind – sie sollen dort, wo sie auf- und hingestellt werden, für eine lange Zeit, wenn nicht sogar „für die Ewigkeit“ verweilen, denn sie werden nur bedingt für die Gegenwart, sondern vielmehr für die Zukunft geschaffen.

Ironischerweise kommen sie – in der Zukunft irgendwann angelangt – den meisten dann sehr altbacken und vorgestrig vor.

Kunst im öffentlichen Raum
Kunst im öffentlichen Raum hat sich in Deutschland als Begriff erst in den 1970er Jahren entwickelt. Dazu beigetragen haben die neuen Freiräume, die in den 1960er und 1970er Jahren im Zuge der Stadterweiterungen geschaffen wurden sowie die vom Kulturdezernten Hilmar Hoffmann unter der Losung „Kultur für alle“ losgetretene Bewegung, Kunst für jede:n zugänglich und erfahrbar zu machen. In den 1970er und 1980er Jahren wurden in Stadtstaaten wie Bremen und Hamburg teilweise große Förderprogramme geschaffen, um Kunst im öffentlichen Raum zu fördern.

Unter Kunst im öffentlichen Raum wurden und werden dabei häufig flüchtige und temporäre Projekte verstanden, die Unsichtbares zum Vorschein bringen, Irritieren oder Fragen aufwerfen. Sie können oder sollen auf etwas aufmerksam machen, gängige Bilder und Vorstellungen verschieben, zu Diskussionen anregen oder Visionen ermöglichen. Oft bewusst abstrakt, wollen sie auf verschiedenen, frei interpretierbaren Ebenen zum Nachdenken anregen. Ähnlich zu den erinnerungspolitischen Praxen im öffentlichen Raum, beziehen sich künstlerische Projekte im öffentlichen Raum häufig auf einen einzelnen Ort, mit dem sie in Interaktion treten und darüber bestimmte Aspekte davon oder darin hervorheben.

Versteht man Kunst im öffentlichen Raum jedoch nicht nur als Intervention in den öffentlichen Raum, sondern auch als seine Gestaltung, so fallen auch Standbilder, Bauschmuck, Parkanlagen und die unter Erinnerungskultur bereits erwähnten Denk- und Mahnmale sowie weitere zeitgenössische Arbeiten darunter. Auch die Arbeiten, die im Rahmen von Kunst am Bau entstanden sind, gehören dazu – einem Förder- und Hilfsprogramm für Künstler:innen, das sich in den 1920er Jahren in der Weimarer Republik entwickelt hat und in einigen Stadtstaaten wie Bremen und Hamburg in den 1970er und 1980er Jahren in die Programme zu Kunst im öffentlichen Raum überführt wurde.
Neben vielen anderen Dingen ist der öffentliche Raum in Deutschland also nicht nur von künstlerischen Arbeiten und Gestaltungselementen bevölkert, sondern auch von erinnerungskulturellen Praxen in Text und Bild. In vielen Fällen überschneiden und ergänzen sie sich auch. Besonders deutlich wird dies zum Beispiel bei der Durchsicht der in den ersten 20 Jahren realisierten Kunstprojekte im öffentlichen Raum in Hamburg1 . Auf der 2001 angelegten Webseite der Stadt Hamburg, die bis dahin das deutschlandweit größte Förderprogramm für Kunst im öffentlichen Raum geschaffen hatte, findet sich eine eigene Rubrik für Mahnmale. Von den etwas mehr als 60 Arbeiten, die dort vorgestellt werden, beschäftigen sich knapp ein Viertel der Arbeiten mit erinnerungskulturellen Themen.

Kuratieren im öffentlichen Raum
Gemeinsam ist den meisten Arbeiten aber wiederum – ob künstlerisch oder erinnerungspolitisch motiviert –, dass sie einen einzelnen Ort als Ausgangs- und Verhandlungsort nehmen, über den sie bestimmte Geschichten erzählen, Aspekte hervorheben oder Fragestellungen aufwerfen. Was aber, wenn sich, wie im Fall der Bernhard-Nocht-Straße, gewisse Fragestellungen oder Geschichten erst im Zusammenspiel verschiedener Orte zeigen? Wenn es nicht nur um bestimmte Gebäude, Straßen oder Personen geht, sondern die Brisanz oder das Ausmaß eines Themas wie der deutschen Kolonialgeschichte und ihrer Folgen erst in Räumen oder Clustern der Erinnerung wirklich deutlich wird? Ist es die Aufgabe der Künstler:innen, Historiker:innen oder politischen Bildner:innen, die Zusammenhänge zwischen den Orten, Personen und Geschichten herzustellen – oder kann, soll, darf nicht gerade das der Auftrag urbanen oder öffentlichen Kuratierens sein?

Welche Möglichkeiten bietet das Kuratieren – anders als die künstlerische Auseinandersetzung mit einem Ort, einem Gegenstand oder einer Geschichte – diese im öffentlichen Raum miteinander zu verbinden, aktiv zu gestalten und sogar zu transformieren? Wie können Altes und Neues in Bezug – oder Beziehung – zueinander gesetzt werden, wie Bestehendes (re-)aktiviert werden? Kann urbanes Kuratieren dazu beitragen, Künstler:innen, Stadtplaner:innen, Wissenschaftler:innen und Anwohner:innen in ein Gespräch miteinander zu bringen und sich mit dem öffentlichen Raum, den sie nutzen, auseinanderzusetzen? Zusammenkünfte von Menschen, Institutionen, Materialien zu ermöglichen, um zum Biespiel die unsichtbaren Geschichten von Kolonialismus und Rassismus sicht- und damit ihre subkutanen Wirkmächtigkeiten gesellschaftlich verhandelbar zu machen? Wäre es die Aufgabe einer Stadtkuratorin, dabei verschiedene Sinne anzusprechen, aber auch die Bildung, Vermittlung und Kommunikation im Blick zu haben? Und welche Voraussetzungen hat ein solches Kuratieren?

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